Die Lebensgeschichte von Khentrul Rinpoche Jamphel Lodrö

Khentrul Rinpoche gilt als die dritte Inkarnation des großen Kalachakra-Meisters Ngawang Chözin Gyatso. Ausgehend von seinen bescheidenen Anfängen als nomadischer Yakhirte hat Rinpoche in seinem Leben einige wirklich außergewöhnliche Erfahrungen gemacht. Die folgende Zeitleiste beleuchtet eine Auswahl der wichtigsten Ereignisse, die dazu beitrugen, den Menschen zu formen, der er heute ist.

Wichtiger Hinweis: Khentrul Rinpoche hatte verschiedene Visionen seiner persönlichen Gottheit, die ihn anwies, sich zu bestimmten Zeitpunkten an unterschiedliche Geburtsdaten zu halten. Die nachfolgenden Daten der Zeitleiste sind korrekt, jedoch variiert Rinpoches Geburtsdatum, entsprechend seiner Anweisungen für seine persönliche Praxis.

1967

Zeichen einer bevorstehenden Inkarnation

Vor Rinpoches Geburt erhielten seine Eltern verheißungsvolle Zeichen, dass bald ein ganz besonderes Wesen in die Familie geboren werden würde. Einmal besuchte Rinpoches Vater eine hochverwirklichte Yogini namens Tare Lhamo, die als eine Emanation der großen Yeshe Tsogyal angesehen wurde. Bevor er das Dorf erreichte, erschien Tare Lhamo plötzlich vor ihm. Rinpoches Vater warf sich vor ihr nieder und bot ihr einen Khatag (Gebetsschal) an. Seine reine Gabe akzeptierend, überreichte sie ihm kostbare Geschenke wie Medizinpillen, Schutz- und Segensbänder und einen zu einer Schriftrolle gerollten Brief.

Als er zu Hause ankam, öffnete er den Brief und stellte fest, dass dieser verschiedene Vorhersagen enthielt. Demnach würde Rinpoches Vater nicht sehr lange leben, aber als großer tantrischer Praktizierender in Nordtibet wiedergeboren werden. Es hieß auch, dass Rinpoches Mutter eine großartige Frau war, die ein hartes Leben erfahren hatte, aber den Samen für viele bedeutende Wesen in sich trug, die ihr geboren werden sollten. Die Bedingungen waren jedoch solcherart, dass nur eines dieser Wesen eine hohe Verwirklichung erlangen sollte, und zwar im mittleren Alter.

Bei einer anderen Begebenheit hatte Rinpoches Mutter einen lebhaften Traum von ihrem über alles geschätzten Meister Getse Khentrul, der während der Kulturrevolution inhaftiert worden war. In ihrem Traum trug er ein weißes Gewand und ritt auf einem weißen Pferd, als er sich ihrem Zelt näherte. Sie war von seiner Aufmachung überrascht, da er stets die traditionellen kastanienfarbenen Roben eines Mönchs getragen hatte. Er stoppte an der Schwelle ihres Zeltes, band sein Pferd an und trat ein. Sie bemerkte, dass Getse Khentrul immer noch seine Mönchsrobe bei sich hatte, sie aber in seiner Tasche trug. Er nahm Platz auf einem weißen Kissen und bekam von Leuten, die sie nicht erkannte, ein Mandala dargebracht. Am Ende der Zeremonie verließ Rinpoches Mutter das Zelt und stellte fest, dass das weiße Pferd verschwunden war. Nachdem sie aufwachte, hatte sie das untrügliche Gefühl, dass sie ihren Meister bald wiedersehen würde.

Später erfuhr sie von ihrem Mann, dass auch er genau den gleichen Traum gehabt hatte, in welchem er und Getse Khentruls Bruder, Getse Varu, dem weiß gekleideten Lehrer ein Mandala dargebracht hatten. Erstaunt über diesen erstaunlichen Zufall, erzählten die beiden ihren Freunden von dem Traum. Als Getse Varu davon hörte, bestätigte er, dass auch er in der gleichen Nacht denselben Traum gehabt hatte. Diese und weitere Zeichen wiesen eindeutig auf das Bevorstehen einer ganz besonderen Reinkarnation hin.

1968

Eine verheißungsvolle Geburt

Rinpoche wurde am 18. April 1968 im Jahr des Erdaffen im Dera-Tal neben dem Machu-Fluss geboren. Die Dorfbewohner/innen berichteten, dass am Tag seiner Geburt das Wetter ungewöhnlich mild war und Lotusschneeflocken sanft vom Himmel fielen. Die Fruchtblase seiner Mutter platzte während der Geburt nicht und so wurde er in einer völlig intakten Fruchtblase geboren. Dieses sehr seltene Ereignis kommt nur bei einer von 80.000 Geburten vor. Die Geburtshelfer/innen waren außerdem überrascht, als sie sahen, dass seine Nabelschnur nicht mit der Plazenta verbunden war. Es heißt, dass er nicht wie viele Neugeborene weinte, sondern seine Mutter und die Anwesenden anlächelte. Einige Kinder aus dem Dorf berichteten, dass ein Regenbogen über dem Familienzelt erschien, während seine Mutter in den Wehen lag.

Am vierten Tag nach Rinpoches Geburt kam ein Fremder zu ihrem Familienzelt. Er wurde auf die übliche Weise begrüßt und hineingebeten. Als er seinen langen Mantel auszog, sahen alle Anwesenden, dass er die traditionellen roten Mönchsroben trug. Der Fremde fragte, ob er die Mutter und das Kind im Geburtszelt besuchen dürfe. Rinpoches Vater erteilte ihm die Erlaubnis, jedoch nur, weil er ein Mönch war. Beim Betreten des Geburtszeltes verbeugte sich der Mönch vor Rinpoches Mutter und begann Segnungen zu rezitieren. Dann kam er näher und besprenkelte den Körper des Babys mit gesegnetem Wasser. Danach verließ er das Zelt so plötzlich, wie er gekommen war. Niemand hatte die Gelegenheit, ihn zu fragen, wer er war oder woher er gekommen war.

Ein paar Tage darauf machte sich ein anderer Besucher namens Kyangya auf die gefährliche Reise über einen zugefrorenen Fluss, um Rinpoche zu besuchen und ihm seinen Segen zu geben. Bei der Gelegenheit teilte er Rinpoches Mutter mit, dass er glaubte, Getse Khentrul sei inzwischen verstorben und nun als ihr Kind wiedergeboren worden. Er führte eine Zeremonie zum Schutz der Familie und des Kindes durch, und rezitierte dann zu Ehren des Anlasses den Epos von Gesar von Ling.

 

1973

Heimliche Anerkennung als Getse Khentrul

Schon als kleines Kind zeigte Rinpoche einzigartige Züge. Bereits im Alter von einem Jahr soll Rinpoche das Mantra von Manjushri als seine ersten Worte rezitiert haben. Nachdem er laufen gelernt hatte, begab er sich in die offene Umgebung, wo er unter den vielen Gebetsfahnen, die im Wind flatterten, Mantras rezitierte. Einmal, als er drei Jahre alt war, sah Rinpoche einige Mala-Perlen auf dem Altar seiner Mutter und rief aus: „Heh! Das sind meine!” Worauf seine Mutter entgegnete: „Ja, aber du hast sie mir geschenkt.” Als würde er sich daran erinnern, sagte er: „Oh, ja” und legte die Mala zurück auf den Altar.

Als Rinpoche fünf Jahre alt war, besuchte seine Familie einen berühmten Meister der Region, der als Gyarung Samdrup bekannt war. Rinpoches Mutter verbrachte Zeit mit diesem Lama, um von einer Krankheit zu genesen, an der sie litt. Zu dieser Zeit hatte Gyarung Samdrup einige Träume über Getse Khentrul, die Rinpoche als seine unmittelbare Reinkarnation bestätigten. Er machte auch eine Reihe von Vorhersagen, dass Rinpoche ein langes Leben haben und in der Zukunft ein großer Dharma-Lehrer werden würde, der unzähligen fühlenden Wesen enormen Nutzen bringen würde.

Während dieser frühen Jahre rieten viele der Lamas, die Rinpoches Eltern besucht hatten, Rinpoches Status geheim zu halten. Sie warnten, dass, wenn er öffentlich als reinkarnierter Lama erkannt würde, er große Schwierigkeiten und Hindernisse in seinem Leben erfahren würde. Diesem Rat folgend wurde Rinpoche wie ein normales Kind in der nomadischen Gemeinschaft aufgezogen.

1976

Das einfache Leben eines Yak-Hirten

Im Alter von acht Jahren war Rinpoche für das Hüten der Yaks der Familie verantwortlich. Zusammen mit seinem Vater verbrachte er lange Tage in den Bergen, um die Tiere zu hüten. Eines Tages griff ein Rudel Wölfe die Herde an und tötete acht der Yaks. Mit großer Hingabe betete Rinpoche zu einer Manifestation von Tara, bekannt als Marichiworaufhin die Wölfe verschwanden. Von diesem Tag an betete er, wann immer er die Yaks hütete, zu Marichi, indem er ihr Mantra rezitierte. Seitdem war es einfach, sich um die Tiere zu kümmern, und sie wurden nie wieder bedroht.

Eines schönen Tages hütete Rinpoche die Tiere auf dem Berg. Duftende Blumen waren in Hülle und Fülle vorhanden, das frische Gras war grün und üppig, und eine friedliche Atmosphäre durchdrang die Landschaft. Als er auf dem Boden lag, erinnerte ihn die Schönheit des Ortes an die Geschichte eines berühmten indischen Prinzen namens Drimed Kunden. Der Prinz war bei allen für seine Großzügigkeit und sein Mitgefühl bekannt. Im Gedenken an seine große Barmherzigkeit und Opferbereitschaft schlief Rinpoche ein.

Im Schlaf hörte er wunderschöne Musik und wachte plötzlich auf. Als er in den Himmel blickte, sah er Prinz Drimed Kunden mit seiner Frau und seinen Kindern in den Wolken tanzen. Der Prinz trug ein prächtiges weißes, fließendes Gewand und hatte einen perfekt geformten Haarknoten – eben genau wie ein indischer Prinz. Die Prinzessin hatte langes, schwarzes, glänzendes Haar und trug ein fein gewebtes, mit Juwelen besetztes Seidenkleid, das mit einem fein bestickten Schal drapiert war. Ihre beiden Söhne trugen farbenprächtige indische Seidengewänder. Sie alle bewegten sich wie im Traum in den Wolken, doch Rinpoche erlebte diese Vision im Wachzustand. Für die nächsten Stunden verweilte er in einem tiefen und klaren Zustand der Meditation, wie er ihn noch nie zuvor erlebt hatte.

Als Rinpoche etwas älter war, begann er bei einem Mönch, der bei seiner Familie wohnte, den Buddhismus zu studieren. Während einer Unterweisung über den Medizinbuddha berichtigte Rinpoche den Mönch oft, wenn dieser sich falsch ausdrückte. Er bewies auch, dass er viele schwierige Themen beherrschte, die ihm in diesem Leben nicht beigebracht worden waren. Schnell sprach sich Rinpoches natürliche Vertrautheit mit dem Dharma herum.

1986

Der Tod des Vaters und die Mönchsweihe

Nach vielen Jahren des Verbots durften die Tibeter schließlich mit dem Wiederaufbau ihrer Klöster beginnen. Rinpoches Vater meldete sich freiwillig, um beim Wiederaufbau des Klosters Denung zu helfen, und machte eine weite Reise, um seinen Beitrag zu leisten. Es verging einige Zeit, so dass Rinpoche beschloss, seinem Vater zu folgen. Als Rinpoche endlich ankam, stellte er fest, dass sein Vater sehr krank war. Sein Zustand verschlechterte sich zunehmend, und alle befürchteten, dass er sterben würde. Bald darauf traf auch Rinpoches Mutter ein und sagte, sie habe eine Reihe von ungünstigen Zeichen gesehen. Leider war es ihr aufgrund der Vorschriften des Klosters nicht erlaubt, bei ihrem Mann zu bleiben.

Eines Morgens bat Rinpoches Vater ihn, einen Sitz vorzubereiten, damit er in Meditationshaltung sitzen konnte. Er war gebrechlich, konnte aber mit Hilfe gehen, also half Rinpoche ihm zu seinem Sitz, wo er sich wohl zu fühlen schien. Nach einer Weile sagte sein Vater: „Alles ist weiß”, und deutete mit einer Geste vor sich. Er wiederholte dies noch einmal und sackte dann leicht nach vorne. Fünfzehn Minuten später erkannte Rinpoche, dass sein Vater verstorben war – woraufhin ein Mönch den Raum betrat und ihm anriet, den Körper unbewegt ruhen zu lassen.

Vor dem Tod seines Vaters war Rinpoche sich unsicher gewesen, ob er Mönch werden sollte. Nach seinem Tod hatte er jedoch das Gefühl, nun keine andere Wahl mehr zu haben. Er spürte, dass seine Mutter an gebrochenem Herzen sterben könnte, wenn er nicht Mönch würde. Mit dem Ableben seines Vaters als Auslöser kniete Rinpoche nieder, verneigte sich vor dem Leichnam seines Vaters und versprach, Mönch zu werden, um damit den Lebenswunsch seiner Eltern zu erfüllen.

Nachdem er die Trauerzeit um seinen Vater vollendet hatte, erhielt Rinpoche im Traum eine Reihe verheißungsvoller Zeichen, die ihm signalisierten, dass es an der Zeit war, Mönch zu werden. Mit siebzehn Jahren reiste Rinpoche zum Kloster Denung und bat Lama Tulku Katag, ihm die Mönchsweihe zu erteilen. Zu dieser Zeit warteten noch fünfzehn weitere Mönche auf ihre Ordination. Der Lama erachtete den Zeitpunkt seines Gesuches als glücksverheißend, da es bedeutete, sechzehn Mönche zu ordinieren, den sechzehn Arhats entsprechend, die die Hauptschüler des Buddha waren. Die Zeremonie wurde am folgenden Tag abgehalten.

Rinpoche und die anderen Aspiranten wurden in kleinen Gruppen von jeweils nur drei Mönchen ordiniert. Während der Zeremonie zog – wie es der Brauch war – jeder einen Namen aus einem Hut. Zu Rinpoches Überraschung zog er den Namen von Lama Tulku Katags Lehrer, Amdo Geshe, der auch als Jamphel Rolwi Lodrö bekannt war. Tulku Katag informierte Rinpoche, dass sein Ordinationsname nun Jamphel Lodrö sei, ein Name, der ebenso verheißungsvoll wie kostbar war.

1987

Lernen, ein Mönch zu sein

Rinpoche war begierig darauf, seine Ausbildung als Mönch zu beginnen, und bat seinen Gelübde-Lehrmeister um Unterweisungen in den vollständigen Satz von zweihundertvierzig Gelübden, die in der buddhistischen Klosterdisziplin (Vinaya) festgelegt sind. Hocherfreut über Rinpoches reine Absicht, gab Tulku Katag ihm und einer Handvoll weiterer Mönche vier Tage lang Unterweisungen über die Gelübde. Er lobte Rinpoche dafür, dass er so scharfsinnig sei, sagte, es sei bemerkenswert, dass er um diese Belehrung gebeten habe und schenkte ihm eine handgeschriebene Sammlung der sechsunddreißig Gelübde mit zusätzlichen Kommentaren.

Nachdem er kurz nach Hause zurückgekehrt war, um Rituale für seinen kürzlich verstorbenen Bruder durchzuführen, reiste Rinpoche zum Kloster Dhartang, um seine Studien fortzusetzen. Im Gegensatz zu den kleineren Klöstern, in denen Rinpoche zuvor Retreats absolviert hatte, war der Dhartang eine große Klostergemeinschaft, in der einige hundert Mönche lebten. Im Dharthang erhielt Rinpoche Unterweisungen über Ngari Panchens Buch ‘Die drei Gelübde untersuchen’, das einen detaillierten Kommentar zu den Gelübden und Verpflichtungen der Mönche sowie zu denen der Bodhisattva- und tantrischen Fahrzeuge enthielt.

Die meisten Tage verbrachte er mit langen Sitzungen, in denen er Gebete rezitierte. Wenn er unterrichtet wurde, las der Lehrer in der Regel aus einem Text vor, der – wenn überhaupt – nur wenig erklärt wurde. Von den Schülern wurde erwartet, dass sie die Texte am Abend auswendig lernten. An den folgenden Tagen wurden sie getestet, um zu sehen, ob sie den Stoff verinnerlicht hatten. Da Rinpoche viele dieser Werke mit Lama Tulku Katag studiert hatte, unterrichtete er seine Mitbewohner oft in der Nacht.

Das Leben im Dharthang erwies sich für Rinpoche als eine echte Herausforderung. Während die meisten Mönche als Kinder ordiniert worden waren, nahm Rinpoche die Mönchsweihe als junger Erwachsener.. Diese Tatsache in Verbindung mit Rinpoches natürlicher Beherrschung des Dharma führte bald zu Spannungen mit einigen der Älteren, die sich durch Rinpoches Anwesenheit bedroht fühlten. Obwohl Rinpoche sich nur auf seine Studien konzentrieren wollte, wurde er oftmals in die interne Klosterpolitik hineingezogen.

1987

Sich dem Studium widmen

Nachdem er seinen jüngeren Bruder im Kloster Kirti besucht hatte, kehrte Rinpoche zum Winter-Retreat nach Dharthang zurück. Während dieser Zeit beschäftigte er sich mit den Vorbereitenden Übungen des großen Nyingma Tertön Lama Namchö Mingyur Dorje. Dieser Zyklus wurde hauptsächlich innerhalb der Palyul-Tradition verbreitet und trägt den Titel ‘Buddhaschaft in der Handfläche’. Er dient in erster Linie als Vorbereitung für die Praxis des Dzogchen, das als die höchste Lehre der Nyingma-Schule gilt.

Mit großer Hingabe an den Tertön Mingyur Dorje unternahm Rinpoche besondere Anstrengungen, um die vollständige Übertragung der Unterweisungen zu erhalten und widmete sich dann Tag und Nacht der Vollendung der Praktiken. Dazu gehörte, dass er früh am Morgen aufstand, um vor dem Frühstück eintausend Niederwerfungen zu machen. Durch großen Fleiß vollzog er innerhalb von nur einundzwanzig Tagen 100.000 Niederwerfungen. In den kommenden Monaten meditierte er weiterhin intensiv die verbleibenden Vorbereitenden Übungen: Kultivierung von Bodhicitta, Vajrasattva-Reinigung, Mandala-Darbringungen sowie Guru-Yoga. Nach dem Abschluss der Vorbereitenden Übungen, meditierte er einen Monat lang auf die Silbe ‘A’, wie es der Tradition entsprach.

Im darauffolgenden Frühjahr erhielt Rinpoche viele Unterweisungen von dem sehr kenntnisreichen Lama Khenpo Zhiten, der vorübergehend im Dharthang residierte. Rinpoche war sehr inspiriert von der klaren und strukturierten Art, wie der Khenpo den Dharma präsentierte. Von diesem Moment an betrachtete er den Khenpo als seinen Lehrer.

Nach vielen Monaten hingebungsvollen Studierens und Praktizierens sprang Rinpoche für einen anderen Mönch ein, der gebeten worden war, Unterweisungen über Patrul Rinpoches ‘Worte meines vollkommenen Lehrers’ zu rezitieren . Obwohl er erst seit einem Jahr ordiniert war, rezitierte Rinpoche den gesamten Text auswendig, ohne einen einzigen Fehler zu machen. Diese Handlung brachte ihm den Respekt vieler seiner Mitbrüder im Kloster ein.

Rinpoche fuhr fort, sich in den Praktiken der Vollendungsstufe zu üben, mit den subtilen Kanälen und Winden zu arbeiten, um das zu kontrollieren, was als ‘inneres Feuer’ oder Tummo bekannt ist. In der bitteren Kälte des tibetischen Winters meditierten die Mönche im Freien, nur durch sehr wenig Kleidung geschützt. Während die meisten Schüler die harten Bedingungen nicht aushalten konnten, absolvierten Rinpoche und drei weitere Mönche ein einmonatiges Retreat. Diese Zeit reichte zwar nicht aus, um die Praxis zu meistern, aber sie half Rinpoche, seine Widerstandsfähigkeit und Geistesstärke auszubauen.

In den folgenden Jahren erhielt Rinpoche weitere Unterweisungen von Khenpo Zhiten. Dazu gehörten ausführliche Unterweisungen über den ‘Lebensweg eines Bodhisattvas’ von Shantideva. Seinem Beispiel folgend, entwickelte Rinpoche ein überwältigendes Gefühl der Entsagung und des Vertrauens an die Lehren von Atisha und den großen Kadampa-Geshes. Auf der Grundlage dieses Gefühls erhielt Rinpoche, sobald sich die Bedingungen dafür ergaben, die volle Ordination von Khenpo Zhiten.

1990

Begegnung mit seinem Wurzel-Lama

Nach vielen Jahren des Umgangs mit Hindernissen, die sich aus der internen Politik des Klosters ergaben, traf Rinpoche die Entscheidung, dass es Zeit war, Dharthang zu verlassen. In seiner letzten Nacht dort hatte er einen Traum, in dem er auf einen großen, dunklen Fluss mit steilen, überhängenden Klippen traf. Schritt für Schritt überquerte Rinpoche erfolgreich den Fluss und kletterte die massiven Felswände hinauf. Auf der anderen Seite sah er ein wunderschönes Tal mit Buddhas, Wäldern und Bächen mit kristallklarem Wasser. Dort ritt eine Dame in hellblauen Gewändern auf einem weißen Pferd. Sie zeigte auf eine wunderschöne Höhle und sang in einer Sprache, die Rinpoche nicht verstand, aber so interpretierte: „Jetzt haben alle deine Schwierigkeiten und Hindernisse ein Ende. In dieser Höhle musst du jetzt die Kalachakra-Praxis ausüben, und für die Zeit deines Verbleibs werde ich und viele andere meiner Art dich beschützen.” Als Rinpoche aus seinem Traum erwachte, war er fest entschlossen, ein dreijähriges tantrisches Retreat durchzuführen.

Von Dhartang aus kehrte Rinpoche nach Hause zurück, bevor er zum Kloster Jamda reiste, wo einer seiner engen Lehrer, Tulku Lobsang Norbu, ausgebildet worden war. Dort verbrachte er mit den Mönchen einige Monate im Retreat. Ausgeruht und voller Inspiration setzte er seine Reise fort und reiste zum Kloster Se in Amdo Ngawa. Dort äußerte Rinpoche den Wunsch, mehr über die Zhentong-Philosophie der Jonang-Tradition zu erfahren. Er fragte den dort ansässigen Lama, von wem er diese Unterweisungen erbitten sollte, und der Lama riet ihm, den höchst versierten Gelehrten und Praktizierenden Jetsun Lama Lobsang Trinle aufzusuchen. Als er dessen Namen hörte, war Rinpoche von großer Hingabe erfüllt. Er wurde angewiesen, sich auf den Weg zum Chöthang-Kloster zu machen, wo Lama Lutrin sich darauf vorbereitete, Unterweisungen über Zhentong zu geben.

Nach vielen Reisetagen erreichte Rinpoche schließlich das Kloster Chöthang an einem Tag, an dem die Mönche eine Pause von den Unterweisungen einlegten, um zu feiern. Erpicht darauf, den Lama zu treffen, machte Rinpoche sich auf den Weg zum Lehrer, wo er drei Niederwerfungen vollzog. Der bescheidene Lama strahlte die Kraft der Verwirklichung aus, und als er Rinpoche sah, forderte er ihn auf, näherzukommen und bereitete ihm sogar einen Platz mit dem Kissen seines eigenen Sitzes. Rinpoche fühlte sich voller Demut und saß mit Lama Lutrin zusammen, um den Dharma zu diskutieren. Der Lama stellte Rinpoche viele Fragen über seine Praxis und Erfahrung.

Nach den Unterweisungen in Chöthang begleitete Rinpoche Lama Lutrin zum berühmten Kloster Dzamthang Tsangwa, wo Lama Lutrin vom Großen Abt Lama Yonten Zangpo gebeten worden war, Zhentong zu lehren. Dzamthang beherbergte über zweitausend Mönche und war das Hauptzentrum der Jonang-Tradition. Hier widerlegte Lama Lutrin auf Bitten von Rinpoche alle Kritikpunkte am Zhentong Madhyamika, die in Thuken Lobsang Chokyi Nyimas Buch ‘Der Kristallspiegel philosophischer Systeme’ dargelegt wurden. Von diesem Zeitpunkt an entwickelte Rinpoche ein unerschütterliches Vertrauen in die Jonang-Lehren. 

1991

Praxis im Drei-Jahres-Retreat

Als Rinpoche dreiundzwanzig Jahre alt war, erfüllte er glücklicherweise alle notwendigen Voraussetzungen, um in ein dreijähriges Retreat im Chöthang-Kloster auf der Kalachakra-Vollendungsstufe einzutreten. Wie es in der Jonang-Tradition üblich ist, wird von jedem Mönch erwartet, dass er mindestens ein Dreijahres-Retreat absolviert. Zu dieser Zeit nahmen elf Mönche, die meisten von ihnen im Alter zwischen neun und achtzehn Jahren, am Retreat teil. Rinpoche und ein weiterer Mönch waren die einzigen erwachsenen Mönche in der Gruppe. Rinpoche erkannte, dass die sehr jungen Mönche es ohne Hilfe schwer haben würden und übernahm die Verantwortung, sie während des Retreats zu betreuen. Gemeinsam führten die Mönche die Vorbereitenden Übungen aus, wie sie in Jetsun Taranathas Text ‘Die göttliche Leiter’ beschrieben sind. Parallel zu diesen Praktiken nahm Rinpoche auch an intensiven Studiensitzungen mit den gelehrten Mönchen teil.

Während dieser Zeit gab Lama Lobsang Trinle eine äußerst kraftvolle Kalachakra-Ermächtigungbei der Rinpoche das Gefühl hatte, dass seine gesamte Erfahrung in das Kalachakra-Mandala aus 636 Gottheiten transformiert wurde. Es ist bei solchen Zeremonien üblich, dass der Lehrer jedem Teilnehmer einen Vajra-Namen verleiht. Um dies zu tun, bat Lama Lutrin Rinpoche, eine Liste von Namen zusammenzustellen und diese in einen Hut zu werfen. Als Rinpoche an der Reihe war, zog er den Namen Choyang Yeshi Dorje, was ‘Unzerstörbare ursprüngliche Weisheit’ bedeutet.

Nachdem er die gewöhnlichen und besonderen Vorbereitungen abgeschlossen hatte, begann Rinpoche mit der einzigartigen Kalachakra-Meditationspraxis, die als die Drei Isolationen bekannt ist. Diese Praxis wird in einem völlig dunklen Raum durchgeführt, wobei die Praktizierenden eine bestimmte yogische Haltung einnehmen, während sie über die raumähnliche Natur des Geistes meditieren. Obwohl Rinpoche mit der körperlichen Haltung kämpfte, war er durch große Ausdauer schließlich in der Lage, diese Position zwei bis drei Stunden schmerzfrei einzunehmen.

Als es an der Zeit war, sich mit den Hauptpraktiken der Sechs Vajra-Yogas zu beschäftigen, bestimmte Lama Lutrin Rinpoche zu seinem Lehrassistenten. Lama Lutrin unterrichtete einmal alle drei bis vier Wochen für zwei Stunden. In der Zwischenzeit war es Rinpoches Aufgabe, den vor Ort befindlichen zwei Meditationsgruppen, die Unterweisungen nahezubringen. Zusätzlich zum intensiven Meditationsprogramm verzichtete Rinpoche oft auf das Frühstück, um weiter meditieren oder an den Studiensitzungen teilnehmen zu können, die zu dieser Zeit stattfanden.

Im Alter von 26 Jahren beendete Rinpoche sein Retreat und die ganze Gruppe ging zu Lama Lutrin, um die Verdienste ihrer Praxis darzubringen. Bei diesem Anlass versprach Rinpoche seinem Lama, mindestens neun Monate in einem intensiven Einzel-Retreat in einer abgelegenen Gegend zu verbringen. Lama Lutrin war sehr erfreut über all ihre Bemühungen und segnete sie, damit ihre Praxis erfolgreich sei. Anschließend veranstalteten sie ein großes Tsok-Festum ihre Errungenschaften zu feiern.

1994

Die Entwicklung zum Rime-Meister

Nach seinem dreijährigen Retreat begann Rinpoche, von Kloster zu Kloster zu wandern und an einer Vielzahl von Unterweisungen und Retreats teilzunehmen. Mit seinem unstillbaren Durst nach dem Dharma beschränkte er sich nicht auf eine einzige Tradition, sondern konzentrierte sich darauf, viele der Lehren der großen Übertragungslinien zu lernen.

Um die Flexibilität seines Geistes zu verbessern, ließ er sich oft auf Debatten mit den örtlichen Gelehrten der jeweiligen Klöster ein. Hierbei nahm er die Position anderer Traditionen ein, um die Mönche herauszufordern über die starren Ansichten, die sie möglicherweise entwickelt hatten, hinauszudenken. Wenn sich Rinpoche beispielsweise in einem Gelug-Kloster befand, argumentierte er oft im Namen der Nyingma-Tradition. Befand er sich hingegen in einem Nyingma-Kloster, argumentierte er oft zugunsten der Gelug-Tradition. Er erkannte, dass dieser Prozess nicht nur sein eigenes Dharma-Verständnis schärfte, sondern auch dazu beitrug, eine Vielzahl von Missverständnissen auszuräumen, die dadurch entstehen, dass man sich nur auf die Fehler anderer Traditionen konzentriert. Stattdessen betonte er, wie wichtig es ist, den unglaublichen Wert zu erkennen, den jede einzigartige Übertragungslinie bietet.

In dieser Zeit besuchte Rinpoche das große Kloster Larung Chögar, das von dem Rime-Meister Khenpo Jigme Phuntsok gegründet worden war. Dieses riesige Kloster beherbergte eine blühende Gemeinschaft, die auf dem Prinzip des offenen Austauschs beruhte. In diesem Kloster gab es keinen festen Lehrplan, dem die Mönche zu folgen hatten. Stattdessen stand es den Gelehrten frei, an einer Vielzahl von Kursen und Diskussionsrunden teilzunehmen, die aus allen Traditionen schöpften. Rinpoche genoss diese offene Herangehensweise an den Dharma sehr und blühte in dieser Umgebung regelrecht auf.

Seine Zeit in Larung Gar half Rinpoche nicht nur, den Ozean an Lehren, den er bis dahin erhalten hatte, zu verinnerlichen, sondern es wurde auch anderen klar, dass Rinpoche ein wahrer Rime-Meister war. Rinpoche zögerte zwar ein wenig, diese Art von Anerkennung zu akzeptieren, aber schließlich fand er sich mit dem Gedanken ab, dass er zu einem versierten Gelehrten und Praktizierenden herangewachsen war.

Neben dem wachsenden Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten wuchs auch Rinpoches Ergebenheit gegenüber seinem allwissenden Meister Lama Lobsang Trinle. Indem er eine extrem weite und umfassende Sichtweise entwickelte, war er in der Lage, die erstaunlich tiefgehende Natur der Lehren zu erkennen, die er von Lama Lutrin erhalten hatte. In ihm entstand ein Gefühl überwältigender Dankbarkeit und Wertschätzung für die unermessliche Güte, die ihm sein Lama erwies.

1997

Öffentliche Anerkennung als
Ngawang Chözin Gyatso

Nachdem er mehr als zwei Jahre lang Klöster besucht und die Menschen in seinem Heimatdorf unterstützt hatte, kehrte Rinpoche schließlich nach Chöthang zurück, um bei seinem Wurzel-Lama zu sein. In dieser Phase begann Rinpoche, mehr über die astrologischen Systeme Tibets zu lernen. Dabei handelte es sich um das Naktsi-Systemdas aus China stammte, und das Kartsi-Systemdas aus Indien kam. Letzteres basierte weitgehend auf den sehr präzisen Berechnungen, die im Kalachakra-Tantra zu finden sind.

Zeitnah versammelte sich das gesamte Kloster zu einem Tsok-Fest. Während der gemeinsamen Rezitation, betrat Lama Lobsang Trinle die Halle und bat den Ritualmeister, aufzuhören. Dann hielt er eine kurze Dharma-Unterweisung über die Bedeutung der Unterscheidung zwischen authentischer Dharma-Praxis und authentischen Dharma-Lehrern. Im Rahmen dieser Rede benannte er Rinpoche und lobte ihn für sein langjähriges Studium und seine hingebungsvolle Praxis, wobei er seinen nicht-sektiererischen Ansatz hervorhob.

Nachdem die Restriktion für die spirituelle Praxis aufgehoben wurden, erteilte Lama Lutrin zwölf seiner Schüler den Titel ‘Khenpo’. An diesem Tag des Tsok-Festes teilte er der Versammlung mit, dass er Rinpoche den Titel ‘Rime Choje’ übertrug, was ‘Unvoreingenommener Dharma-Meister’ bedeutet. Er wies an, dass dies sein offizieller Titel sei, während er im allgemeinen Sprachgebrauch als Khenpo bezeichnet werden könne. Außerdem verkündete er den mehr als vierhundert anwesenden Mönchen, dass Rinpoche tatsächlich die Reinkarnation von Getse Khentrul Jigme Jangchup Gyatso sei und dass er als solcher geehrt werden solle. Zu diesem Anlass überreichte Lama Lutrin Rinpoche eine Reihe ganz besonderer Texte aus seiner persönlichen Sammlung sowie seinen eigenen Zeremonienhut, den er bei all seinen Unterweisungen getragen hatte. Mit dem Erhalt des Titels, der Bestätigung als reinkarnierter Lama und dieser symbolischen Geste seines Meisters wurde Rinpoche als Linienhalter und spiritueller Erbe von Lama Lobsang Trinle ermächtigt.

Rinpoche war von all dem sehr überrascht und es war ihm etwas peinlich, plötzlich im Rampenlicht zu stehen, nachdem er so lange als einfacher Mönch gelebt hatte. Er hatte nie mit Lama Lutrin über die Geheimnisse seiner Familie gesprochen und war umso erstaunter, als er all dies der Öffentlichkeit mitteilte. Im Nachhinein erfuhr Rinpoche, dass Lama Lobsang Trinle aufgrund seiner offensichtlichen Besonderheit private Untersuchungen bezüglich seiner früheren Leben durchgeführt hatte und dabei von vielen hohen Lamas unterstützt wurde.

Die hohen Lamas bestätigten, dass Rinpoche die zweite Inkarnation des großen Kalachakra-Adepten, bekannt als Washul Lama, Ngawang Chözin Gyatso, war. Dieser außergewöhnliche Praktizierende war für seine außerordentlichen Realisationen bekannt und Lehrer von Lama Lutrins eigenem Wurzel-Lama Ngawang Tenpa Rabgye und anderen großen Meistern wie Bamda Thubten Gelek Gyatso. Es war Ngawang Chözin Gyatso, der dann als Getse Khentrul reinkarnierte, der später als Khentrul Rinpoche Jamphel Lodrö geboren wurde.

1997

Meditieren in der Wildnis

Später in diesem Jahr besuchte Rinpoche einen der erfahrensten Schüler von Lama Lutrin, Kyangnak Kontsul, der sich in einem lebenslangen Meditations-Retreat befand. Bei ihrer Zusammenkunft berichtete Kyangnak Rinpoche, dass er in der Nacht vor seiner Ankunft einen sehr verheißungsvollen Traum hatte. Daraufhin führten die beiden eine sehr lange und intensive Diskussion über den Dharma, die bis in die frühen Morgenstunden dauerte.

Rinpoche fühlte sich durch seinen Besuch bei diesem ganz besonderen Yogi zutiefst inspiriert und reiste zum Kloster Dzamthang Tsangwa, um Zeit mit einigen Freunden zu verbringen. Dort wurde er vom Abt von Dzamthang, Lama Yonten Zangpo, in dessen Räumlichkeiten eingeladen. Yonten Zangpo überreichte Rinpoche einen zeremoniellen Schal und mehrere Geschenke zur Begrüßung. Rinpoche solle in Dzamthang bleiben und die Mönche unterrichten. Aus Respekt vor Lama Yonten Zangpo, der ihm die Kalachakra-Ermächtigungen verliehen hatte, nahm Rinpoche die Position an, obgleich er nicht den Wunsch zum Lehren verspürte.

Mit dem Segen von Lama Lutrin begann Rinpoche in Dzamthang zu unterrichten, musste aber schnell feststellen, dass die Konstellation nicht funktionieren würde. Eine Führungsposition in einem so großen Kloster zu haben, bedeutete, dass ein hohes Maß an Politik im Spiel war. Es wurde klar, dass Rinpoche gehen musste, wenn er die Reinheit seiner Praxis bewahren wollte. Mit einem aufrichtigen Entschuldigungsschreiben verzichtete er auf seine Position und beschloss, in die Fußstapfen von Yogis wie Kyangnak Kontsul zu treten und sich in ein abgeschiedenes Retreat in der Wildnis Tibets zurückzuziehen.

Nur mit einer zusammengerollten Matratze, einigen Decken und dem Nötigsten ausgestattet, reiste Rinpoche in den Wald von Doi Arinak, wo große Meister wie Patrul Rinpoche meditiert hatten. Rinpoche bettelte in den Dörfern der Umgebung um Nahrung und sammelte genug Vorräte für sieben Wochen. Dann ging er in den Wald und fand eine Lichtung, wo er sein Lager aufschlug. Von Zufriedenheit und Gelassenheit erfüllt, widmete sich Rinpoche der Meditation.

Gegen Ende der siebten Woche, als Rinpoches Vorräte zur Neige gingen, erhielt er Besuch von zwei Kindern in seltsamen Kleidern. Er hatte in der ganzen Zeit, die er dort verbracht hatte, keinen einzigen Menschen gesehen und war daher sehr überrascht, als diese Kinder aus dem Nichts auftauchten. Nachdem er sie begrüßt hatte, erzählte Rinpoche ihnen, dass er bald aufbrechen wolle, um weitere Vorräte für seinen Rückzugsort zu besorgen. Die beiden Kinder rieten ihm davon ab und sagten ihm, er solle lieber nach Hause zu seiner Familie zurückkehren. Sie wiederholten dies viele Male, so dass Rinpoche schließlich zustimmte. Dann entschwanden sie.

Einige Tage später beschloss Rinpoche nach reiflicher Überlegung, dem Rat der beiden Kinder zu folgen und nach Hause zurückzukehren. Auf dem Weg dorthin machte er in einem Wald Halt, um die Nacht zu verbringen. Nachdem er eingeschlafen war, träumte Rinpoche von demselben Jungen und demselben Mädchen, die sich als Damchen und Ekajati ausgaben, zwei Dharma-Beschützer, die oft mit den Dzogchen-Lehren in Verbindung gebracht werden. Die beiden erklärten ihm, dass er sein Wald-Retreat nicht fortzusetzen brauche und dass er stattdessen seine spirituelle Erfahrung überall dort anwenden solle, wo er sich gerade befand. Als er aus seinem Traum erwachte, war Rinpoche entschlossen, seinem Leben eine neue Richtung zu geben.

1999

Die Reise in den Westen

Als er wieder in seinem Dorf ankam, dauerte es nicht lange, bis die Gemeinschaft Rinpoche bat, viele tantrische Rituale zu ihrem Nutzen durchzuführen. Nach zwei Wochen der Rituale verspürte Rinpoche ein starkes Verlangen, seinen Lama zu sehen. Er spürte, dass etwas Wichtiges geschah, und beschloss, sofort zum Kloster Chöthang aufzubrechen. Als er ankam, fand er die Mönche vor, die eine Puja für Lama Lobsang Trinle durchführten. In der Öffentlichkeit wurde Rinpoche gesagt, dass es dem Lama gut ginge, aber dann erfuhr er, dass der Lama nur ein paar Tage zuvor ins Nirwana gegangen war. Diese Tatsache wurde geheim gehalten, um ihm die Privatsphäre zu geben, die er brauchte, um seine Meditation über den Tod durchzuführen, die fünf Tage lang dauerte.

Der Tod seines kostbaren Lehrers hinterließ einen tiefen Eindruck bei Rinpoche. Obwohl der Lama seine Schüler gewarnt hatte, dass er in diesem Jahr sterben würde, war das Gefühl des Verlustes, das er zu diesem Zeitpunkt empfand, unbeschreiblich. Nachdem er an all den ausführlichen Pujas und Praktiken teilgenommen hatte, die das Ableben eines großen Lamas begleiten, legte Rinpoche ein feierliches Gelübde ab, sieben Jahre lang alle weltlichen Sorgen aufzugeben. Während dieser Zeit würde er seine geliebte Familie nicht besuchen und sich auch nicht mit den Angelegenheiten seiner Heimatregion befassen.
Um sein Versprechen zu erfüllen, wusste Rinpoche, dass er sich von der Welt, wie er sie bis dahin kannte, distanzieren musste. Zu dieser Zeit kam ihm die Idee, außerhalb Tibets zu reisen. Er entwickelte das Bestreben, fremde Länder zu besuchen, über das Vertraute hinauszugehen und zu erforschen was sonst noch möglich war.

Dank der Reifung dieses Wunsches war Rinpoche schließlich in der Lage, alle Voraussetzungen und Bedingungen zu schaffen, um nach Melbourne in Australien umzusiedeln. Dort angekommen, meldete er sich zu einem Englischkurs an, um zu lernen, sich zu verständigen. Obwohl sich diese Welt drastisch von der unterschied, in der er aufgewachsen war, war er stets entschlossen und gab niemals auf. In den nächsten Jahren wohnte Rinpoche an verschiedenen Plätzen in der Stadt, um seine Sprachkenntnisse zu verbessern und Verbindungen zur örtlichen buddhistischen Gemeinschaft aufzubauen.

2005

Erste Unterweisungen für Westler

Anfang 2005 erhielt Rinpoche die Nachricht, dass seine Mutter erkrankt sei und operiert werden müsse. Um ihr zu helfen, bat er die buddhistische Gemeinschaft um Spenden für die Operation. Auf diese Bitte hin lernte Rinpoche Julie O’Donnell kennen, die später eine von Rinpoches engsten westlichen Schülerinnen werden sollte.

Julie lud Rinpoche ein, in ihrem Haus in Upwey (einem östlichen Vorort von Melbourne) zu unterrichten. Einmal in der Woche veranstalteten sie Unterweisungen in ihrem Zuhause und am Wochenende reiste er an verschiedene Standorte in der Stadt, um öffentliche Dharma-Vorträge zu halten. Obwohl sein Englisch noch recht begrenzt war, konnte er diese Veranstaltungen nutzen, um seine Kommunikationsfähigkeiten zu verbessern und den Grundstein für eine Dharma-Gemeinschaft zu legen.

Als Ergebnis ihrer gemeinsamen Bemühungen gründete Julie unter der Leitung von Rinpoche das Tibetan Buddhist Rimé Institute als eine gemeinnützige Organisation, die die Verwirklichung von Rinpoches Projekten unterstützen sollte. Zu dieser Zeit zogen sie in ein neues Haus im nahegelegenen Vorort Rowville, das es ihnen ermöglichte, ihre Aktivitäten auszubauen.

Vom Haus in Rowville aus gab Rinpoche weiterhin wöchentliche Unterweisungen über die Grundlagen des tibetischen Buddhismus und begann auch, Praxis-Retreats für eine wachsende Schülerschaft anzubieten. Gleichzeitig wurde er in der Gemeinde sehr aktiv und hielt viele öffentliche Vorträge zu den Themen Glücklichsein und Meditation. Auf Wunsch führte er auch Segenszeremonien und Beerdigungsrituale durch.

Während dieser Zeit arbeitete Rinpoche mit Julie und anderen Freiwilligen zusammen, um seine Lebensgeschichte und seine Unterweisungen zu dokumentieren. Aus diesem Material erstellten sie die erste Ausgabe seiner Autobiographie mit dem Titel ‘Eine geheime Inkarnation’ und eine neue überarbeitete Ausgabe seines Rime-Buches mit dem Titel ‘Der Pfad der reinen Vision’.

2006

Heimreise nach Tibet

Sieben Jahre nachdem Rinpoche seinem kostbaren Guru Lama Lobsang Trinle sein Versprechen gegeben hatte, waren endlich die Voraussetzungen geschaffen, um nach Tibet zurückzukommen und wieder Kontakt zu seiner Familie aufzunehmen. Dank der freundlichen Spenden, die Rinpoche von seiner westlichen Schülerschaft erhalten hatte, konnte er nicht nur die Operation seiner Mutter bezahlen, sondern auch nach Tibet reisen, um sie persönlich zu sehen.

In Begleitung einer kleinen Gruppe westlicher Schüler/innen packte Rinpoche viele Koffer mit Geschenken und Vorräten für seine betagte Mutter, seine Verwandten und die Menschen in seinem Heimatdorf. Auf dem Weg nach Golok wurden sie von einer Schar von Mönchen begrüßt, die aus dem ganzen Land angereist waren, um ihn willkommen zu heißen und ihm weiße Gebetsschals zu schenken. Mitten auf einer Berglichtung hatten sie ein Zelt mit Essen aufgebaut. Rinpoche genoss ein großes Festmahl mit den Bekannten, die er seit seiner Abreise aus Tibet nicht mehr gesehen hatte.

Als er seine Heimreise fortsetzte, endeten die Straßen, und Rinpoches Gruppe war gezwungen, ihr gesamtes Gepäck und ihre Vorräte auf vierzig Yaks umzuladen, die in einer großen Karawane angeordnet waren. Rinpoche bekam ein weißes, fahnengeschmücktes Pferd, auf dem er an der Spitze der langen Prozession ritt. Langsam bahnten sie sich ihren Weg durch die bergigen Pässe und schönen Sommertäler der Heimat seiner Kindheit.

Als sie sich ihrem Ziel näherten, waren alle Bewohner/innen des Dorfes und der umliegenden Region auf die Straße gegangen, um Rinpoche zu begrüßen. Sie standen in einer langen Reihe, die zu seinem Haus führte. Jeder hielt einen Gebetsschal in der Hand und jubelte, als er vorbeiritt. Der Klang der tibetischen Hörner und Trommeln hallte durch die Berge und kündigte Rinpoches Ankunft an.

Als er sich schließlich dem Haus seiner Mutter näherte, war Rinpoche von Freude erfüllt und ging sofort zu ihr, wobei er mit seinem Kopf den ihren berührte, wie es in Tibet üblich ist. Die beiden verharrten viele Minuten lang so, als wollten sie sich nie wieder trennen. Mit Tränen in den Augen gingen sie schließlich hinein, um sich zu unterhalten und seine Rückkehr zu feiern. Dieses wunderbare Wiedersehen sollte das letzte Mal sein, dass Rinpoche seine Mutter lebend sah, denn sie verstarb im folgenden Jahr.

Nach seiner Zeit bei seiner Mutter machten sich Rinpoche und seine westlichen Schüler/innen auf den Weg zum Chöthang-Kloster und besuchten unterwegs verschiedene Klöster, darunter das Jamda-Kloster und Dzamthang Tsangwa. Ähnlich wie bei seinem Empfang in Golok säumten Hunderte von Mönchen die Straßen, um Rinpoche willkommen zu heißen und ihn zu ehren.

Seitdem hat Rinpoche mehr als sechs Reisen nach Osttibet geleitet. Diese Reisen ermöglichten seiner westlichen Schülerschaft, das reichhaltige und anhaltende spirituelle Erbe dieser Region kennenzulernen. Zudem trugen sie dazu bei, enge Verbindungen zu den vielen großen, dort ansässigen Praktizierenden zu pflegen. Durch diese Verbindungen hofft Rinpoche, den Segen der Übertragungslinie in die Welt zu bringen.

2007

Die Gründung von Tong Zuk Dechen Ling
(Rime Institute)

Nach seiner Rückkehr nach Australien wurde Rinpoche klar, dass das Rime-Institut einen festen Wohnsitz brauchte, den es sein Zuhause nennen konnte, um seiner noch jungen Gemeinschaft zu helfen, weiter zu wachsen. Zu diesem Zweck begann er, nach einem Grundstück zu suchen, das als Basis für ein zukünftiges Dharma-Zentrum dienen könnte. Nach eingehender Suche fand er schließlich ein wunderschönes Haus in der kleinen Stadt Belgrave, eingebettet in die lebendigen Wälder der Dandenong Reservate im Osten von Melbourne.

Nach dem Einzug machte sich Rinpoche mit einem Team von Freiwilligen an die Arbeit, das Haus zu renovieren und einen Tempel zu bauen, in dem die Schüler/innen Unterweisungen erhalten und meditieren konnten. Während Rinpoche im oberen Teil des Hauses weiterhin wöchentliche Kurse und Retreats abhielt, wurde das Untergeschoss langsam in einen wunderschönen Raum für die spirituelle Praxis umgewandelt, der mit außergewöhnlichem Segen erfüllt war. Als der Bauprozess abgeschlossen war, feierte Rinpoche ihre Errungenschaft, indem er dem Zentrum den Namen Tong Zuk Dechen Ling gab, was ‘Ort der leeren Form und der großen Glückseligkeit’ bedeutet.

Während die Mitglieder der Gemeinschaft unter Rinpoches geschickter Anleitung mit ihren Studien fortfuhren, konzentrierte sich Rinpoche selbst vor allem darauf, Lehrmaterial für seine Schüler/innen zu erstellen. Da er erkannte, dass es für Westler, die an der Praxis des Kalachakra-Pfades interessiert waren, nur sehr wenige Ressourcen gab, machte er sich daran, sein umfangreiches Wissen in Form einer Buchreihe zu vermitteln.

Eines der ersten Bücher, die in Tong Zuk Dechen Ling entstanden, war ‘Hidden Treasure of the Profound Path’, auf Deutsch ‘Verborgener Schatz des tiefgründigen Pfades’, ein Wort-für-Wort-Kommentar der Göttlichen Leiter, den er ursprünglich auf Tibetisch schrieb und dann ins Englische und Chinesische übersetzen ließ. Dann produzierte Rinpoche in enger Zusammenarbeit mit einer Reihe von Freiwilligen ein Buch mit dem Titel ‘Ein glücklicheres Leben’, das sich auf praktische Ratschläge zum Erreichen echten Glücks konzentrierte. Gleichzeitig arbeitete er weiter an der Gestaltung seines Haupttextes ‘Die Enthüllung der inneren Wahrheit’, einer umfangreichen Zusammenstellung von Lehren, die den vollständigen Pfad Schritt für Schritt beschreiben, um die allmähliche Entwicklung seiner Schülerschaft zu erleichtern.

2014

Verbreitung der Kalachakra-Lehren

Nach vielen Jahren anhaltender Bemühungen, den Kalachakra-Dharma westlichen Schüler/innen nahezubringen, traf Rinpoche 2014 einen Kanadier namens Joe Flumerfelt, der bald nach Melbourne zog, um mit Rinpoche zu arbeiten. Gemeinsam konzentrierten sich die beiden auf die Erweiterung der Materialien, die Rinpoche bereits entwickelt hatte, um seine Vision vollständig zu verwirklichen. Als Ergebnis ihrer Zusammenarbeit entstanden zwei Originalwerke. Das erste mit dem Titel ‘Ozean der Vielfalt’ erweiterte Rinpoches bestehendes Rime-Buch um alle wichtigen Weisheitstraditionen der Welt und seine Lehren zur Entwicklung einer Rime-Philosophie. Das zweite Buch mit dem Titel ‘Shambhala entdecken’ erweiterte ein kleines Buch, das er über die Geschichte der Jonang-Tradition in Tibet geschrieben hatte. Dieses Buch enthielt auch Rinpoches detaillierte Erklärung der Beziehung zwischen Shambhala und Kalachakra. Zusätzlich zu diesen Werken wurde das in ‘Die Enthüllung der inneren Wahrheit’ präsentierte Material neu strukturiert und erheblich erweitert, so dass eine dreibändiges Werk entstand.

Während diese neuen Ergänzungen zu seinen gesammelten Werken entstanden, wurde Rinpoche eingeladen, in einer Vielzahl von Städten auf der ganzen Welt zu lehren. Auf seiner ersten Weltreise besuchte Rinpoche viele europäische Länder wie Rumänien, Ungarn, Österreich, Italien und Griechenland. Anschließend reiste er in die Vereinigten Staaten, wo er die Saat des Dharma im Mittleren Westen der USA ausbrachte. Im darauf folgenden Jahr kehrte Rinpoche in viele dieser Länder zurück, um eine wachsende Zahl engagierter Schüler/innen weiter anzuleiten. Zu dieser Zeit begann Rinpoche auch, eine komprimierte Version der Kalachakra-Ermächtigungen als Teil seiner Unterweisungen zu geben.

Bis 2017 hatte Rinpoche erfolgreich den Grundstein für ein globales Netzwerk von Kalachakra-Praktizierenden gelegt und in einer Handvoll Städte Praxisgruppen gegründet. Durch verschiedene große Veranstaltungen hatte Rinpoche die Möglichkeit, viele seiner neuen Bücher vorzustellen und eine große Anzahl von bedeutungsvollen Dharma-Verbindungen mit Menschen aus der ganzen Welt aufzubauen. Seit dieser Zeit lehrt Rinpoche in mehr als zwanzig Ländern und hat unermüdlich Menschen in die Lehren des Kalachakra eingeführt und ihnen gezeigt, wie sie praktizieren können.

2018

Manifestation des Goldenen Zeitalters von Frieden und Harmonie

Im Jahr 2018 gründete Khentrul Rinpoche Dzokden, ein internationales Netzwerk von Einzelpersonen, Praxisgruppen, Ausbildungsinstituten und Retreat-Zentren. Dabei hat er es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die Ursachen für globalen Frieden und Harmonie durch die Praxis der Lehren des Kalachakra-Tantras herbeizuführen. Während Dzokden die große Vielfalt der Weisheitstraditionen dieser Welt einbezieht, hat es sich auf den tiefgründigen Pfad des Vajra-Yoga spezialisiert – die einzigartigen Lehren der Kalachakra-Vollendungsstufe, wie sie in der Jonang-Shambhala-Tradition gelehrt werden.

Durch DZOKDEN stellen wir uns eine Welt ohne Begrenzungen vor. Eine Welt, in der jede/r von uns in der Lage ist, sein unendliches Potenzial zu enthüllen. Eine Welt, in der – unabhängig von der Gesellschaft, der wir angehören, oder den Traditionen, denen wir folgen – Individuen als eine einzige globale Familie, vereint in unserer perfekten Natur, zusammenkommen können. In einer solchen vorurteilsfreien Welt kann unser Geist in vollkommenem Frieden und Harmonie verweilen und einen fruchtbringenden Planeten in perfektem Gleichgewicht hervorbringen, auf dem die spirituelle Praxis blüht.

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